Vom Schreiben

Vom Schreiben, Denken, Glauben und Träumen in unserer Zeit

„Vermag das Buch meinen Blick auf die Welt dauerhaft zu verändern? Nehme ich sie nach der Lektüre anders wahr als vorher?“ Diesen Anspruch formulierte der bekannte Literaturkritiker Denis Scheck als seinen Maßstab zur Bewertung der Qualität von Literatur. Was er mit dieser Aussage ausdrücken möchte, will ich nicht interpretieren, aber seinen Satz als Anregung für einige Überlegungen nutzen.

Es mag einem in heutiger Zeit so scheinen, als habe sich über die Kunst, die Literatur, die Medien eine Patina des Gleichklangs gelegt, die keinen Glanz durchscheinen lassen will, der von einem anderen Bild des Menschen und Lebens erzählt, als es das herrschende Verständnis zulässt. Die Welt neu zu denken, sie neu zu entdecken, ein neues Verständnis von ihr zu fordern – und zwar grundlegend – dringt kaum in das Blickfeld.

Denn unsere Kultur – zumindest in Deutschland und umgebenden Ländern – meint erreicht zu haben, was von den Vertretern des Fortschritts über Jahrhunderte angestrebt wurde. Sie hat sich in einer Wirklichkeit eingerichtet, die Freiheit und Glück den Gesetzen des Marktes unterworfen hat. Der Wert von jeglichem wird in Geld gemessen. Diese Kultur fordert nun für das Prinzip, auf den sie fußt, das allumfassende Einverständnis – auch der Kunst. Das Leben soll von Vernunft und Zweck beherrscht sein. War bis in die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts die Idee, dass die Welt als Ort von Gleichberechtigung aller Lebensformen und des individuellen Strebens jedes Menschen nach seinem persönlichen materiellen Nutzen anzusehen ist, noch umkämpft, so scheint diese Haltung zur „herrschenden“ und „richtigen“ geworden zu sein. Noch muss sie gegen die „Gestrigen“ verteidigt werden, gegen die, die zurück zur Nation, dem Volk, der Familie, der Religion, zu all den tradierten Werten der vergangenen Zeiten wollen, von denen der moderne Mensch sich emanzipiert hat. Trotz dieses Widerstands hat eine Kulturausrichtung, die sich dem materiell messbaren Fortschritt verpflichtet sieht, die Oberhand gewonnen. Auch wenn die Anerkennung einer Idee noch keinesfalls ihre Realisation bedeutet. Trotzdem möchte sich nun der moderne Mensch in der Gewissheit, am Ziel angelangt zu sein, ausruhen und für sein Weltbild unumschränkte Gültigkeit verlangen.

Doch weitere Veränderung – die Fortführung möglicherweise die Vollendung der Aufklärung – klopft an die Tür des Weltengangs. Diese sieht im Erreichten nur einen Zwischenschritt der Emanzipation und Individualisierung, einen erforderlichen Schritt, um vom Reich der Notwendigkeit, in dem der Mensch sich von höheren Mächten bestimmt sah, Abschied nehmen zu können. Diese Mächte konnte er versuchen zu beschwören, und ihm günstig zu stimmen, doch sie schienen ganz unabhängig zu handeln. Jetzt soll das Reich der Möglichkeit betreten werden, in welchem der Mensch sich als Gestaltenden der Welt selbst in den Mittelpunkt stellt. Hier muss er seine Verantwortlichkeit erkennen. Denn er setzt aus seinem Sosein, welche Möglichkeit der vielen sich verwirklicht. Sein Bewusstsein und damit seine Entwicklung rücken in den Fokus der Wahrnehmung.

Andererseits noch hängt die Menschheit an überbrachten Ideen. Das Verständnis der Welt als Ort der Dominanz und Ausbeutung konnte die Aufklärung kaum erschüttern. Sind doch Imperialismus und Kapitalismus Kinder der gleichen Epoche. Die Haltung, Mensch und Natur den eigenen Interessen – und seien sie noch so aufgeklärt – zu unterwerfen, zeigt sich in großer alltäglicher Selbstverständlichkeit. Der Mensch versteht sich als Wesen, das sich durch Beherrschung – auch seiner selbst – in einer unwirtlichen Umwelt zu behaupten hat. Er sieht sich als Teil einer Ordnung, in der das Prinzip der Regentschaft gilt. Diese Wirklichkeit bestimmt das Verständnis vom Leben bezogen auf Kultur und Natur. Der eigene Wille soll sich durchsetzen. Der eigene Vorteil ergibt den Nachteil des anderen, wer oder was auch immer dies ist!

Allerdings in heutiger Zeit wankt und krankt die Ordnung der Dominanz und Unterdrückung. Mit Nachdruck wird der Menschheit die Zerstörungskraft ihrer Haltung dem Leben und der Welt gegenüber bewusst: Erderwärmung, Klimakrise, Umweltzerstörung, Armut, Spaltung der Gesellschaft und Weltordnung in Arme und Reiche, Krankheit und ein nicht nachhaltig wirkendes Gesundheitssystem, welches den Menschen zum Objekt degradiert, Hunger, Krieg, Terror, die aus der Ausbeutung erwachsen oder diese begründen, lassen sich nicht mehr ignorieren. Und was zudem zu erkennen ist: Der unübersehbare Schaden ist menschengemacht, entspringt dem Handeln und der Haltung des Menschen.

Neue Fronten verlaufen zwischen den Leugnern der eigenen Verantwortung, den Anhängern von und Gläubigen an Herrschaft und Dominanz (Populisten, Nationalisten …) und denen, die die eigene Zuständigkeit und Verantwortung voller Schreck erkennen. Sie sehen, wie Untergang, Schmerz und Leid drohen, wenn die Ausbeutung kein Ende findet und die Versöhnung zwischen den Menschen untereinander und mit der Natur scheitert. Doch nur mühsam wächst ein neues Verständnis der eigenen Rolle im irdischen Geschehen heran.

Der Mensch lernt gefangen in einem System der Gegensätze in steter Dialektik. Die Aufklärung hat versprochen, durch Erkenntnis, gewonnen in objektiver, wissenschaftlicher Weise, den Menschen zu befreien und zu retten. Die Wahrheit liegt nicht mehr in dem Wissen einer Religion, im Bezug auf einen göttlichen Willen, verkündet die Aufklärung, sondern in der Erkenntnis des Menschen selbst über die Welt. Das garantiert die Wissenschaft und dies gebiert zugleich den Irrtum, die Wissenschaft wäre der Quell einer objektiven, absoluten Wahrheit; aus ihr ließe sich dauerhaft Halt im Leben finden und der Sinn des Seins ergründen. Allein die moderne Wissenschaft ist nicht mehr als ein Verfahren oder eine Haltung zur Wissensgewinnung, welches zugleich jede gewonnene Erkenntnis infrage stellt, niemals eine endgültige Antwort findet, sondern den Wandel zur unbedingten Maxime des Verhältnisses des Menschen zur Welt erklärt. Nur die Mathematik mag hier ausgenommen sein, soweit der mathematische Beweis ein allzeit gültiger zu sein scheint.

So sieht sich der moderne Mensch, der die Tradition der religiösen Welterklärung hinter sich lassen möchte, nur allzu oft im Verlangen gefangen, die Wissenschaft mit ihrer Objektivität und ihrem Materialismus möge seine neue Religion sein, ihm die Welt für immer gültig erklären und die Instrumente ihrer Beherrschung zur Verfügung stellen. Diese scheinbar aufgeklärte Haltung führt somit fort, von was der Mensch sich meint mit der Aufklärung getrennt zu haben: Die Annahme, in den Besitz einer absoluten Wahrheit und Richtigkeit gelangen zu können und darüber die Wirklichkeit zu bestimmen – ein Recht auf Dominanz und Ausbeutung zu besitzen.

Die Aufklärung muss ganz vollzogen werden und dies bedeutet zugleich, sie muss sich mit dem Weltverständnis (der Antithese), dem sie sich entgegenstellte, als sie auch das Subjektive, Religiöse, das Geistige, den Sinn und die Bestimmung aus der Wirklichkeit verbannte, versöhnen. Der Einzelne wüsste, fände er neuen Einklang mit dem Abgelehnten, darum, dass sein Verständnis der Wirklichkeit immerfort dem Wandel unterliegen soll; er sich zu entwickeln hat und das Gegenüber ihm hierbei ein hilfreicher Lehrer sein kann, gerade weil er von ihm verschieden ist. Das eigene Sein wäre nicht durch einen im Augenblick erreichten Stand der Wissenschaft, was heute ein reduktionistisch-materialistisches Verständnis bedeuten mag, begrenzt, sondern offen für inneres, geistiges Wachstum, neue Fragen und eine bisher noch unbekannte Erkenntnis. Werden Natur und Mitmensch auf diese Weise betrachtet, dann ist die Beziehung nicht mehr durch Ausbeutung, sondern die Verantwortung für sich selbst bestimmt.

Zugleich eröffnet die gesuchte Synthese von Objektivität und Subjekt, von Geist und Materie, Vernunft und Irrationalität, den Raum für die Individualität des Menschen, welche unumkehrbar im Weltengang fortschreitet. Denn der Einzelne definiert sich nicht länger über die Gruppe, der er angehört, mit ihren für alle Mitglieder festgelegten Werten und Wahrheiten. Er ist ausgebrochen aus ihr und aufgebrochen, als Individuum „alleine“ seinen Weg zu gehen. Darüber mussten die tradierten Werte und absoluten Wahrheiten wanken und schwand die Gewissheit über die eigene Identität. Der Mensch muss selbst das im Prozess der Emanzipation Verlorene finden. Materielle Güter können die entstandene Lücke nur kurzzeitig füllen und niemals schließen. So wachsen in jedem die Not und das Verlangen nach der Versöhnung mit Geist und Lebenssinn.

Was ist nun mit der Kunst, der Literatur und der Patina des herrschenden Weltbildes, welches über ihr liegt? Will Kunst sein, dann sollte sie zu jeder Zeit aus tieferen Quellen schöpfen, als ein Weltverständnis es dem Augenblick vorgibt. Im Künstler kann die Auseinandersetzung zwischen seinem inneren Erleben, das aus den zeitlosen Bedingungen des Seins schöpft, und dem herrschenden Verständnis, wie Wirklichkeit zu verstehen ist, stattfinden. Geschieht dies, befindet sich der Künstler in einer unbedingten Gegenposition zur Gesellschaft, denn er plädiert zwangsläufig für die Überwindung des Bestehenden, die weitere insbesondere geistige Entwicklung und möchte zur neuen Synthese zwingen, indem er eine andere Sicht auf Mensch und Natur einbringt. Und jeder Mensch ist ein Künstler, meinte Joseph Beuys. Dieser Satz ist ganz unbedingt ernst zu nehmen.

Noch heute gelingt es den Großen, einem Shakespeare oder Goethe, weiterhin, uns in das Spannungsverhältnis von unserem Verständnis irdischer Existenz und ihrem tieferen Wissen zu zwingen. Ein Rushdie oder Beuys stellen uns in ihren Werken die Frage, wer wir sind in stetiger und wiederholt neuer Form. Kunst soll uns nicht bestätigen, es sei denn in unserer Suche. Dies mag vielen missfallen, die sich hierdurch ihres Lebensgrunds beraubt sehen, und möglicherweise akzeptieren sie solch eine Verunsicherung auch nur, wenn ihnen dies von einer „Autorität“ als notwendig verkündet wurde. Vielleicht schenkt aber dem Betrachter oder Leser der Kunst auch die Subjektivität des eigenen Gefühls den Zugang zu Sinn und Schicksal.

„Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität – die einzige revolutionäre Kraft ist die Kunst. Die Kunst ist in einer Krise. Alle Gebiete sind in einer Krise. Die Kunst ist nach meiner Meinung die einzig evolutionäre Kraft.“ Dies verkündete Joseph Beuys. Er meint, was er sagt und lenkt den Blick auf das Schöpferische, welches die Weltentwicklung befördert. Und: Jeder Mensch ist kreativ!

In meinen Romanen soll der Leser all diesen Facetten des Menschseins begegnen. Der Vernunft ebenso wie der (scheinbaren?) Willkür des Schicksals, der Freiheit wie der Bestimmung, dem Erleben von Sinn und Sinnlosigkeit … Die Schilderung der Wirklichkeit soll frei fließen können.

Zu schreiben bedeutet, in ein inneres Erleben einzutauchen, das seine eigene Wahrheit erzählt. Gedanken und Gefühle speisen sich in vielem aus dem zuvor noch Unbewussten und lassen es zum Ausdruck kommen. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich in anderer Form. Das dem Schreibenden zuvor selbst noch Unbekannte will in Worte, Sätze und Handlung gefasst werden. So erzählt Salman Rushdie 2019 in einem Interview mit der Zeit vom Schreiben: „Es hat nichts mit Hausbau zu tun, es gibt kein Fundament und kein Dach. Es ist eher wie eine riesige Wollkugel, aus der drei Fäden herausgucken; und an denen ziehst und ziehst du, und erst am Ende siehst du, was das ist. Als ich jünger war, habe ich viel mehr Architektur gebraucht, Zeichnungen, Pläne. Heute möchte ich manchmal keine Ahnung haben, was passiert. Toni Morrison sagte mir einst, dass sie dem Moment der Schöpfung vertrauen wolle; Miles Davis wusste auch nicht, wohin es ihn führte, wenn er die Trompete an die Lippen setzte. Der Autor, der das am extremsten macht, ist Michael Ondaatje: Er beginnt mit ganz wenig, manchmal nur einem Gedanken, und dann führt es ihn über viele mühsame Jahre irgendwohin.“

So kann die Kunst die Gegensätze umfassen – die Schöpfung schöpft aus der Ganzheit des noch Unbekannten – und von dem berichten, was jenseits von bekannten Welt- und Menschenbildern liegt. Sie mag dann gefährden, was dem Betrachter oder Leser so sicher erscheint, sich einer Einordnung in bekannte Muster verweigern und frei sein! Freiheit kann Angst machen, bereichern, helfen, verändern. Freiheit bedeutet stets von einer neuen Möglichkeit zu wissen. In diesem Sinne ist der Mensch frei. War es dies, was Denis Scheck meinte?

Ein Roman – und meine Romane suchen dies – vermag in die Wirklichkeit der Träume einzutauchen. Sie lassen sich direkt schildern oder mögen Anlass sein, an einem Faden, der aus ihnen herausschaut zu ziehen und sie weiterzuentwickeln, sie in eine Geschichte zu gießen und zu bestaunen was sich zeigt. Man ist vielleicht geneigt, fantastisch zu nennen, was dann zutage tritt, aber zugleich ist es Wahrheit, Realität, die sich der Welt präsentiert.

Träume nutzen Gleichnisse, vielleicht auch Metaphern, um die Qualität einer Wirklichkeit unabhängig von Zeit und Raum zu beschreiben. Diese Umschreibung will sich dem Verstand nicht sofort offenbaren, sondern wendet sich zunächst an das Nichtbewusste. Denn der Verstand könnte begrenzen, was der Traum zu sagen hat, begrenzen auf das, was er in der Lage ist zu verstehen, wie er es gelernt hat. So offenbart uns der Traum eine tiefere Wirklichkeit und befruchtet das Schreiben, wenn der Autor in den Tagtraum eintaucht und schöpft. Dies ist eine direkte Begegnung mit dem Geist.

Unsere Zeit leugnet den Geist, denn er stellt sowohl die Materie wie auch die Objektivität infrage. Wer schreibt kann die Erfahrung machen, dass es der Geist ist, der gestaltet, und die Materie darf gleichberechtigt daneben stehen, um ihn erlebbar werden zu lassen. Die Dinge, der Raum und die Zeit, die der Geist nicht kennt und von denen die Materie weiß, lassen uns verstehen. So versöhnen sich Geist und Materie in Einem. Zusammen bilden sie die Welt. Doch die Kunst hat es schwer, wenn allein die Idee einer objektiven Wissenschaft und der Materialismus herrschen und im Willen der Menschen auch siegen sollen.

Stets wird der Glanz wahrer, kreativer Kunst durch den Nebel scheinen, den ein herrschendes Weltbild im Bemühen zu verstehen, über sie ausbreitet. Der Leser muss neu verstehen wollen, wenn ihm Literatur dabei dienen soll, neu zu erkennen, wer er selbst ist. Das Leben verlangt dies, denn es ist stete Entwicklung. Ist der Mensch an einem Ziel angekommen, tut sich sofort ein neues auf, das das Erreichte hinterfragt. Wollen wir Menschen das? In jedem Fall müssen wir es erfahren.

Der Autor, der aus dem Unbewussten, den Träumen schöpft, er kann daran Halt gewinnen und von einer Wahrheit wissen, die kein herrschendes Weltbild zu schenken vermag. So darf er seiner selbst gewiss sein, wenn er ehrlich auf sein Erleben schaut. Und darüber schenkt er sich und seinen Lesern einen Lebenssinn, indem nun im Innersten – zumindest für einem Augenblick – verstanden werden kann, warum geschieht, was geschieht. Dies zu spüren bedeutet Glück zu erfahren. Wenn sich neue Möglichkeiten eröffnen, lässt sich Freiheit finden. So ist Kunst nicht ein weiterer Blickwinkel im Widerstreit des Bemühens, die Wirklichkeit zu verstehen, sondern ein Zugang zu Glück und Freiheit, welche die Pole der Objektivität und Subjektivität, des Geistes und der Materie in sich zu vereinen vermag.

Kunst gibt nicht dem ›Als-ob‹ Ausdruck, sondern dem, wie die Wirklichkeit im Ursprung ist.

Es geht bei der Kunst nicht darum, etwas zu erschaffen,

das nicht der Realität entspricht und nicht wahr ist.

Es geht bei Kunst darum,

die Wirklichkeit besser zu verstehen und eine tiefere Wahrheit zu berühren.