Am Fluss im Schatten des großen Baumes

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Das Buch

Am Fluss im Schatten des großen Baumes

»Ninhursanga gehörte zur Welt des Dorfes wie der Fluss, der den Fisch schenkt, oder das Ackerland, auf dem die Pflanzen gedeihen, wie der Mond und die Sonne. Allein, auch in dieser Gemeinschaft war ein tiefgreifender Wandel, der die gesamte Welt erfasst hatte, nicht zu übersehen.«
Manchmal wissen zwei Menschen, wenn sie das erste Mal begegnen, dass ein Band zwischen ihnen existiert. Angezogen voneinander suchen sie die Nähe und den Austausch. Sie ahnen von einer geheimnisvollen Zusammengehörigkeit.
Von solch einem Zusammentreffen erzählt diese Novelle. Doch nicht allein zwei Menschen, Ninhursanga und Chris, finden sich, sondern ebenso treffen zwei vollkommen verschiedenartige Kulturen aufeinander. Ninhursanga, die indigene Heilerin, ist abseits westlicher Zivilisation in einem kleinen Dorf am Zusammenfluss zweier mächtiger Wasserläufe aufgewachsen. Bereits bei ihrer Geburt war bestimmt, dass sie Hodura, dem Schamanen, nachfolgen sollte. Chris, ein Kind der industrialisierten Länder, hat eine Laufbahn als Wissenschaftler eingeschlagen und erkundet die Welt der Kleinstlebewesen. Beide schauen mit Neugier und Entdeckungsfreude auf die Welt.
Im Augenblick ihrer Begegnung scheint es, als verbänden sich Menschheitswege wieder miteinander, die sich vor langer Zeit getrennt haben. Zwei Zeitströme können sich vereinigen. Der eine entstammt der Vergangenheit und hat das Wissen der Herkunft als heiligen Schatz bewahrt. Der andere bezieht sich auf die Verheißung der Zukunft und strebt stets vorwärts.
Mit dem Namen »Land der Maschinen und des Eigentums« bezeichnet Ninhursanga die im Norden gelegene Zivilisation. Einige Jahre verbringt sie dort. Sie lernt Sprache und Kultur kennen. Oft schaut sie mit Verwunderung auf die Menschen, die aus ihrer Sicht den Kontakt zur Schöpfung, den Geistern und Göttern verloren haben. Vereinzelt und auf sich gestellt suchen sie die Welt zu verstehen und zu beherrschen.

Zugleich ist Ninhursanga interessiert an der Technik und Wissenschaft dieser ihr fremden Zivilisation. Sie möchte begreifen, was die gegenüber ihrer Erfahrung so andere Stellung des Menschen in der Welt bedeutet. Denn als eigenständiges Individuum – emanzipiert von höheren Mächten – versucht der Einzelne aus eigener Kraft an die Stelle der Schöpfung zu treten.
Während ihres Aufenthalts im Norden suchen Menschen, belastet von Ängsten und Hoffnungslosigkeit, Hilfe bei Ninhursanga. Sie ahnen von der Existenz einer anderen Wirklichkeit, die auch ihnen zugänglich sein kann, und sowohl Halt als auch Erkenntnis verspricht.
Die Novelle berichtet von einer jungen Frau, Vivian, die die Heilerin aufsucht. Sie leidet an ihrer Verlorenheit und Einsamkeit. Vivian ist als Einzelkind bei ihrer Mutter aufgewachsen. Sie ist enttäuscht von ihrer Mutter, die ebenso wie sie die Liebe sucht, aber daran scheitert, sie zu leben. Zu ihrem Vater besteht kaum Kontakt. Ninhursanga gelingt es, Vivian zu den Ursprüngen und dem Sinn ihres Daseins zu führen. Eine neue Harmonie findet sich.
Ninhursanga kehrt reich an neuen Erfahrungen in ihre Heimat zurück. Als Chris sie in ihrem kleinen Dorf kennenlernt, weil er zu den dort vorkommenden Mikroorganismen forschen möchte, wird das Leben in den unterschiedlichen Kulturen Thema der Gespräche. Chris, der von der Heilerin den Namen Niharrda erhält, sitzt oft mit der weisen Frau unter einem großen Baum am Ufer des mächtigen Flusses. So vieles kann er von ihr lernen. Er begibt sich geführt von Ninhursanga auf geistige Reisen in ihm bisher verborgene Wirklichkeiten und lernt die Welt der Seele kennen.
Mit der Zeit wird auch Niharrda zum Lehrer. Denn seine Art zu denken, vermittelt Ninhursanga einen anderen Blick auf den Sinn der Schöpfung. So verbinden sich ihre Welten. Es ist Liebe, wenn das Trennende wegfällt. Die Grenzen, mit der die eigene Kultur diese beiden Menschen umgibt, werden überschritten.
Doch dann widerfährt Niharrda ein schwerer Unfall. Lange schwebt er zwischen Leben und Tod. Ninhursanga steht ihm bei. In dieser Zeit wird ihm ein tiefer Wille, der bisher verborgen in seiner Seele ruhte, bewusst. Seine Aufgabe im Leben ist es, Bewusstsein, welches auch den Tod überdauert, von seiner Existenz zu erschaffen. Und er erkennt in schwierigen Momenten der Besinnung, dass er zu seiner Kultur und Heimat zurückkehren muss, auch wenn dies bedeutet, sich von Ninhursanga, der Frau, die er von Herzen liebt, zu verabschieden.
So endet die Novelle mit seiner Rückreise: »Als er am nächsten Morgen Abschied genommen hatte und das Boot in die Mitte des Stroms steuerte, stand dort am Ufer Ninhursanga in ihren bunten Gewändern. Sie winkte ihm zu und er erwiderte den Gruß. Er liebte diese Frau. Nie würde er sie vergessen. Seine linke Hand umfasste den kleinen Beutel mit der Perle, den er um den Hals trug. Es war ihm, als spräche die Perle zu seinem Herzen, tröstete Schmerz und Trauer wie eine Träne, die dem Menschen Erleichterung zu schenken vermag.«
Ort und Zeit dieser Novelle sind frei gewählt und keinem realen Geschehen oder bestimmten Kulturkreis zuordenbar. Die Protagonisten sind Vertreter von Menschen, Ideen, Bewusstsein und in ihrer Verschiedenartigkeit Ausdruck der schöpferischen Fähigkeit zu lernen, zu verstehen und zu verbinden.
Das Buch berichtet von einer Begegnung, die Wandel und Erkenntnis erlaubt. Mag auch auf andere Weise erfahren und verstanden werden, was eine Pflanze, ein Tier, der Mensch sind. Ein Austausch darüber ist möglich. Behutsam, immer mit dem Blick füreinander, erfolgt das gemeinsame Erkunden von Wahrheit. Das auf berührende Weise zu beschreiben, macht den Reichtum dieses Buches aus.